Mittwoch, 18. Dezember 2019

Schreib-Challenge #3.2019 (David): Depressionen und das Öffentlichmachen


Depressionen und das Öffentlichmachen
 

Ein kleines Drama in fünf Akten
Basiert auf der Kurzgeschichte „Fertig zum Aufgeben“ von Fritz Popp.

Triggerwarnung: Dieses Drama behandelt Themen wie Gewalt in der Familie, Selbstmord und Depression.

1. Akt
Vorfreude

1. Aufzug
Das Ehepaar Georg und Adelheid Kuschinski sitzt im düsteren, penibel symmetrisch eingerichteten Esszimmer zusammen beim Mittagessen.
Georg: Hast du schon unsere Abendgarderobe aus der Reinigung geholt?
Adelheid: Das werde ich heute Nachmittag tun.
Georg: Vergiss das bloß nicht! Darauf haben wir mehr als zehn Jahre gewartet. Reich mir das Salz.
Adelheid: Nein, ich vergesse es nicht.
Sie reicht ihm das SalzGeorg: Wenigstens Sebastian hat nach all den Jahren noch seinen Weg gefunden. Aber du kannst immer noch nicht die Suppe richtig würzen. Na, ich denke, in jeder Familie gibt es ein paar Probleme.
Adelheid erwidert nichts. Langes Schweigen. Man hört nur das rhythmische Schlürfen von Georg.
Georg: Ich wusste immer, was am besten für den Jungen ist. Du wolltest ihn verwöhnen, weißt du noch? Aber ich wusste, er braucht eine strenge Hand. Damit was aus ihm wird. Dr. med., Adelheid! Stell dir mal vor, wir hätten ihn machen lassen, was er wollte! Kinder kommen immer auf so schrecklich dumme Ideen.Er lacht kalt, freudlos und höhnisch.Stell dir mal vor, wir hätten ihn machen lassen. Stell dir mal vor, du hättest das Sagen gehabt. Dann wäre er jetzt Kellner...
Adelheid: Koch. Er wollte Koch werden.
Georg: Dann eben Koch. In irgend so einem runtergekommen Restaurant. Oder vielleicht in einer Imbissbude! Stell dir das mal vor! Pommes Currywurst rot weiß! Gut, dass der Junge mich hatte!
Adelheid: Naja, der Junge von den Müllers hat Restaurantfach gelernt und jetzt sein eigenes Restaurant...
Georg: Ach was, nichts gegen unseren frisch gebackenen Dr. med.! Jetzt haben alle unsere Söhne ihre Promotion, Adelheid! Was ist schon ein Restaurant dagegen?
Adelheid: Naja, ich meine ja auch nur, dass es dem Jungen wohl gut geht damit.
Georg: Und wenn schon, unseren geht es besser. Gut, dass ich da war, damit Sebastian was Sinnvolles aus seinem Leben macht. Gut, dass ich da war.
Georg schlürft seinen letzten Löffel und steht dann auf.Georg: Du musst übrigens noch hier sauber machen, wenn die Jungs heute Abend kommen.

1. Akt, 2. AufzugAdelheid ist alleine und beginnt den Tisch abzuräumen.Adelheid (Monolog): Ich weiß ja, dass er recht hat. Georg hat es immer nur gut gemeint mit den Jungs, damit mal was aus ihnen wird. Als Mutter will man seine Jungs immer nur beschützen. Aber Georg wusste, dass das Leben es nicht gut meint mit einem. Georg hat das Herz am rechten Fleck. Aber manchmal muss man Kinder eben zu ihrem Glück zwingen. Ich war für sowas immer zu weich. Da war's schon gut, dass Georg da war und die Jungs auf den richtigen Weg gebracht hat. Auch, wenn es mir im Herzen weh tat. Adelheid ist mit dem Abräumen fertig und beginnt eifrig, den Raum zu putzen.Adelheid (Monolog): Bei Sebastian war er besonders streng. Das ging aber auch nicht anders. Der Junge wollte immer nur das Schlechteste für sich selbst. Wollte die Schule nicht zu Ende bringen, stell sich das mal einer vor. Zum Glück hat Georg ihm gezeigt, wo es lang geht. Und so schlimm war die Dresche auch nicht. Manchmal braucht es einen Satz heiße Ohren, damit das Köpfchen wieder abkühlt.

2. Akt
Familienidylle

1. Aufzug
Es ist Abend. Familie Kuschinski sitzt fast komplett in dem symmetrisch eingerichteten Esszimmer mit den dunklen, schweren Möbeln. Georg, Adelheid und ihre drei ältesten Söhne Jan, Andreas und Frederick. Vater Georg sitzt am Kopf des Tisches. Ein Stuhl ist leer. Adelheid deckt gerade etwas Wurst und Käse auf.
Jan: Kommt Sebastian nicht?
Adelheid: Der Junge kommt erst morgen. Irgendwann am frühen Abend.
Jan: Wird er es dann pünktlich zur Promotionsfeier schaffen?
Georg: Dem werde ich Beine machen, zur eigenen Promotionsfeier zu spät zu kommen!
Jan: Beruhige dich, er wird schon auftauchen.
Andreas: Na, wundern würd's mich nicht, wenn der zu spät kommt. Mit seinem Abschluss war er ja auch ziemlich spät.
Adelheid: Noch jemand etwas Fleischwurst?
Jan: Na und? Ihm ist wenigstens nicht die Frau schon nach einem Jahr weg gelaufen.
Andreas: Er hat auch keine.
Jan: Da ist er schon mal klüger als du.
Adelheid: Ich habe noch Salami im Kühlschrank.
Andreas: Sie hat sowieso nicht zu mir gepasst.
Jan: Du meinst, weil...
Georg: Jan! Lass deinen Bruder in Ruhe. Der hat alles richtig gemacht. Soll dieses Flittchen doch bleiben wo der Pfeffer wächst.
Adelheid: Wartet, ich habe noch Räucherschinken.
Frederick: Kann ich hier übernachten? Ich habe kein Hotelzimmer mehr bekommen.
Andreas: Du warst schon immer schlecht organisiert.
Georg: Ausnahmsweise. Aber du musst dein Leben endlich in den Griff kriegen.
Frederick: Ja, Vater.
Jan: Frederick hat inzwischen seine eigene Anwaltskanzlei. Er ist organisiert genug, würde ich sagen.
Georg: Ordnung kann nie genug sein. Glaubst du, ich wäre Volksschullehrer geworden, wenn ich so ein Chaot wie du gewesen wäre?
Andreas: Sicher nicht!
Georg: Mein Vater ist noch in den Kohleschächten rum gekrochen. Was meint ihr, wie stolz der war als sein Sohn was aus sich gemacht hatte. Und ich hatte das nicht so einfach wie ihr, glaubt das ja nicht! Wir waren bettelarm, Vater kam nur zum Schlafen nach Hause! Aber Mutter konnte wenigstens die Suppe richtig salzen.
Adelheid: Ich habe noch Fleischsalat da.
Frederick: Es ist gut, wir wollen nicht streiten. Wir sind zum Feiern hier. Mutter, wo hast du den Korn hingelegt? Ich möchte auf die Promotion von Sebastian anstoßen.
Adelheid: Wo er immer ist, mein Junge.
Georg: Deine Mutter kann in ihrem Haus den Schnaps selber holen.
Adelheid steht auf und holt den Schnaps. Danach stoßen alle an.

 
2. Akt, 2. AufzugFamilie Kuschinski ist inzwischen größtenteils zu Bett gegangen. Nur Jan und Frederick sitzen bei einer halb geleerten Flasche Korn noch am Esstisch.
Jan: Dieser scheiß Kerl...
Frederick: Du meinst Vater? Oder Andreas?
Jan: Beide, würde ich sagen.
Frederick: Ach Jan, lass dich nicht immer so runterziehen. Wir sehen die beiden einmal im Jahr, wenn's hochkommt zwei mal.
Jan: Darauf trinke ich. Prosit!
Frederick: Prosit!
Jan: Hast du mal mit Sebastian gesprochen, in letzter Zeit?
Frederick: Nee, wollte ihn nicht ablenken. Wir wissen doch alle, wie schwer so ein Dr. ist.
Jan: Ich hab' vor 'ner Woche mit ihm telefoniert. Er klang etwas melancholisch.
Frederick: Sebastian klingt immer melancholisch.
Jan: Schon, aber ich dachte, wenn er endlich das Studium fertig hat, wird das besser. Endlich der Druck vom Alten weg, du verstehst?
Frederick: Wer versteht das, wenn nicht wir? Prosit auf den Druck! Prosit!
Frederick: Wir sollten schlafen gehen. Müssen doch morgen präsentabel sein.
Jan: Einen noch. Prosit!
Frederick: Prosit!
 

3. Akt
Rache

1. AufzugSebastian Kuschinski betritt das leere Esszimmer mit seinem Koffer in der Hand.Sebastian (Monolog): Hier bin ich also. Es sieht aus wie immer. Wie aus einem Geometrie-Lehrbuch. Vaters Lieblingsraum.
Er schreitet im Zimmer umher.Sebastian (Monolog): Zehn Jahre ist es jetzt her. Es war in diesem Raum, als Vater mir den Brief von der Uni vorlas. Zum Studium zugelassen. Er war überglücklich. Ich am Boden zerstört.Er rückt einen der perfekt am Tisch stehenden Stühle ab.Sebastian (Monolog): Hier hat er mich verprügelt, als ich die Siebte abbrechen wollte. In die Lehre wollte ich gehen, sagte ich. Vaters Argumente waren echte Knochenbrecher. In der Schule musste ich natürlich bleiben. Mitschreiben konnte ich aber für zwei Monate nicht.Er kippt den Stuhl um.Sebastian (Monolog) Der gebrochene Arm war schlimm. Sein Hohn war schlimmer. „Koch ist doch kein Beruf! Mein Sohn wird keine Küchenratte!“
Mutter stand daneben. Die Hände wie eine Nonne im Gebet gefaltet. Den Blick gesenkt. Auf den Boden. Nonnen schauen nicht auf den Boden. Sie schauen in den Himmel.
Für die Uni hatre ich kaum Kraft. Jeden Morgen stand ich auf. Jeden Morgen ging ich dort hin. Lernte. Aß. Schlief. Alles grau. Alles elend. Alles Zwang. Alles für den Traum eines anderen.
Sebastian beginnt wild, die Möbel umzuwerfen.
Sebastian (Monolog): Zehn Jahre hatte ich, um meine Rache zu planen, Vater! Sieh, wie das Wichtigste in deinem Leben in Trümmern liegt!
Er reißt den Lampenschirm von der Decke, darunter kommt ein schwerer schwarzer Eisenhaken zum Vorschein.Sebastian (Monolog): Das Ende deiner Träume, Vater, ist in diesem Koffer. Er holt eine schwarze, stabile Wäscheleine hervor. Ein Ende ist bereits wie ein Strick geknotet. Er befestigt die Leine an dem schwarzen Haken und stellt sich auf einen der dunklen Esszimmerstühle, die Schlinge um den Hals.

 
4. Akt
Chaos für Mama

1. Aufzug
Jan: Was tust du da, um Himmels Willen!
Frederick: Schnell, halt ihn auf!
Sebastian: Wieso... ich dachte, niemand wäre im Haus?
Jan: Frederick, halte ihn fest... genau so.
Sebastian: Lasst mich los!
Frederick: Wehr dich nicht, der Strick ist schon gelöst. Und jetzt setz dich.
Sebastian:
schluchztJan: Ein Glück waren wir hier.
Frederick: Gut, dass du mich besucht hast. Sebastian, sag' mal, spinnst du?
Sebastian: Ihr habt alles verdorben!
Frederick: Was verdorben? Bist du noch bei Trost?
Jan: Komm, Freddy, tu nicht so, als hättest du noch nie darüber nachgedacht.
Frederick: Naja, aber...
Andreas betritt den RaumAndreas: Vater und Mutter warten schon im Auto auf... oh...
Jan: Verschwinde, Andreas.
Frederick: Und kein Wort zu Vater!
Andreas: Wovon? Dass dieser Hanswurst sich aufhängen wollte? Wie erbärmlich!
Jan: Vater ist nicht hier. Du brauchst niemandem in den Arsch kriechen.
Andreas: Jaja, ihr seid die armen Geschlagenen. Schon klar. Papi hat euch nicht lieb. Aber soll ich euch mal was sagen?! Ihr habt alle noch die beste Karte erwischt. Jeder von euch!
Frederick: Ach, Andreas, siehst du denn nicht...
Andreas: Halt dein Maul, Frederick! Halt dein verdammtes, diplomatisches Maul, hörst du?! Du hast Jura studiert, hast deine eigene Kanzlei. Wie oft ruft Vater dich an, hm?
Jan: Mach mal halbla...
Andreas: Und du?! Der geliebte Älteste! Ökonomie studiert, dickes Auto, Liebling vom Chef! Wie oft ruft der Alte dich an? Na los!
Jan: Ich...
Andreas: Ich sage euch was: Mich ruft er jede Woche an! Wann ich endlich Rektor werde, will er wissen. Warum meine Frau mich verlassen hat. Ob ich aus meinem Leben noch was machen will!
Jede Woche! Und das nur, weil ich auch Lehrer geworden bin. In seine Fußstapfen bin ich getreten und damit sein Spiegelbild! Und du willst dich umbringen? Du hattest zehn Jahre deine Ruhe vor Vater! Ich bekomme alles ab! ICH!
Sebastian: Ich wollte mich doch nur rächen.
Andreas: Rächen? Weißt du was eine gute Rache gewesen wäre?! Wenn du Vater heute gesagt hättest, dass du auf deinen Doktortitel scheißt und eine Lehre als Koch anfängst!
Betretenes Schweigen
Frederick: Wisst wir, was wir jetzt machen? Wir gehen einen saufen. Auf meine Rechnung.
Jan: Was ist mit dem Chaos hier?
Andreas: Lass Mutter das aufräumen. Das macht sie doch schon immer für ihn.
Jan: Sebastian, mach wenigstens den Knoten aus der Wäscheleine. Mutter wird sich freuen. Sie liebt praktische Geschenke. Wisst ihr noch, wie sie sich über das Messerset gefreut hat?

5. Akt
Väter

1. AufzugKurz nachdem die jungen Männer das verwüstete Esszimmer verlassen haben, betritt Georg den Raum. Er hatte sich bis dahin in Hörweite verborgen gehalten.Georg (Monolog): So sehen meine Söhne mich also. Sie hassen mich. Alle vier. Dabei wollte ich doch nur das Beste für sie. Was habe ich falsch gemacht? Kinder wollen immer dumme Dinge. Das weiß ich doch selbst! Als mein Vater im Kohlebau gearbeitet hatte, wollte ich Schreiner werden. In der Werkstatt nebenan. Als Kind ließ der Meister mich manchmal helfen. Ich fand es toll, mit Holz zu arbeiten.
Aber Vater wollte das nicht. Er verdrosch mich so heftig, dass mir Hören und Sehen verging. „Du wirst dich nicht im Handwerk krumm machen, Jerzy!“
Vater hatte bereits alles zurück gelassen, als er als polnischer Gastarbeiter nach Deutschland kam. Und als ich die Ausbildung für die Volksschule machen sollte, legten wir auch noch die letzten Reste unserer Herkunft ab. Aus Jerzy wurde Georg.
Er betrachtet den Strick

Epilog
Adelheid betritt das Esszimmer und sieht Georg von dem schwarzen Eisenhaken baumeln. Sie ist nur eine kurze Sekunde wie erstarrt und geht dann in die Küche um mit einem großem Messer in der Hand wieder zu kommen.Adelheid: Gut, dass Andreas mir das Messerset geschenkt hat. Du verunstaltest ja unser schönes Esszimmer, Georg.Sie schneidet die Leiche ihres Mannes los.
Schlusswort:
Womöglich glauben einige jetzt, das habe mit dem Thema „Depressionen und das öffentlich Machen“ wenig bis nichts zu tun.
Die Antwort darauf findet sich eher zwischen den Zeilen. Hätte Georg seine Familie nicht terrorisiert, hätte er seine Söhne nicht in verschiedene Formen der Verzweiflung und Bitterkeit getrieben. Sein Sohn Sebastian konnte sich, entgegen den anderen Söhnen, nicht von seinem alten Traum Koch zu werden trennen und zog sein Studium gegen den eigenen Willen, gegen die eigene Befindlichkeit, gegen die eigene Depression, die eigenen Selbstmordgedanken durch. Wem in dieser kaputten Familie hätte er sein Leid öffentlich machen können?

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