Samstag, 26. Dezember 2020

Schreibchallenge #4.2020 (Eva W.): Freiheit

 

Rausch

Es ist der heißeste Tag in diesem Jahr. An die 38 Grad sollen es werden. Die Fahrt mit den Öffentlichen wird anstrengend, das war klar. Ich hole meine beste Freundin Laura vom Bahnhof ab. Mittlerweile ist sie fast jedes zweite Wochenende bei mir, obwohl uns fast 500 Kilometer von einander trennen. Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich sie noch nie in Stuttgart besucht habe. Sie sagt dann immer, dass ich das nicht brauche. Schließlich könne sie mir in ihrer Wohnung gar nicht den Komfort bieten, wie ich es ihr bieten kann. Der Zug fährt ein. 

Jedes Mal, wenn ich am Bahnsteig stehe, versuche ich sie durch die Türen des einfahrenden Zugs zu entdecken, sodass ich weiß, wo genau sie aussteigt. Das gelingt mir jedoch eher selten. Also bleibe ich stehen, warte, schaue nach links, nach rechts, versuche den roten Lockenkopf zu entdecken, mit dem kleinen grünen Köfferchen.

Eigentlich kommt sie immer von der linken Seite. Sobald sich unsere Blicke treffen winken wir uns wie zwei hektische Teenies lachend zu. 

Wenn Laura bei mir ist, und wir auf die Piste gehen, könnte man meinen, wir würden seit Jahren zusammen in einer WG wohnen, so eingespielt läuft das bei uns. Sie macht sich in meinem Bad fertig, ist ziemlich schnell mit dem Make up und den Haaren fertig, obwohl sie gefühlt eine Trilliarde Stylingprodukte in ihre Locken knetet. Ich male mich derweil neben an im Schlafzimmer an und brauche dafür so lange wie sie zum Duschen, nämlich ewig. 

Die Bahn kommt. Wohlgemerkt die Straßenbahn, gefolgt vom Regionalexpress, einem weiteren Regionalexpress und schlussendlich einem Bus. Wobei es dieses Mal besonders spannend wird, da sich der zweite Regionalexpress als Schienenersatzverkehr entpuppt, und niemand auch nur im Geringsten weiß, wo zur Hölle dieser abfährt. Jenny und Jan sind derweil auch am Bahnhof eingetrudelt. Es ist unfassbar heiß. Laura und ich wedeln mit unseren spanischen Fächern so heftig es nur eben geht. Christian, der hinter uns im Schienenersatzverkehr ohne Klimaanlage bei 45 Grad plus sitzt, hält seine Rübe in unsere Nacken, um so viel wie möglich von unserem selbst erzeugten Luftzug abzubekommen.

„Wir müssen die nächste raus!“, verkünde ich hechelnd. Die 38 Grad draußen fühlen sich an wie eine wohltuende Erfrischung, als wir aus dem Schienenersatzverkehrbus aussteigen. Alle sind nassgeschwitzt, es läuft einfach überall. Wie soll das bloß werden, wenn wir anfangen...? Auf dem Weg zum Eingang hören wir schon das dumpfe Dröhnen der Bässe aus den zahlreichen Lautsprechern ertönen. Die Vorfreude steigt ins Unermessliche. Endlich wieder Tanzen. Abgehen. Sich frei und zeitlos fühlen. Noch schnell den letzten Schluck vom selbstgemixten Weg-Cocktail runter kippen, der mittlerweile auch eine Kerntemperatur von 30 Grad aufweist, und dann sind wir auch schon am Einlass. Wie immer gehe ich vor und zeige unsere Tickets.

Wir bekommen mal wieder einen super Platz. Die Sicht ist gut, direkt gegenüber unseres Tisches hängt ein riesiger Lautsprecher am Baum, sodass wir so laut beschallt werden, dass wir jetzt schon beinahe schreien müssen, um uns zu verständigen. Alle sind gut drauf, jeder trägt eine Sonnenbrille, jeder schwitzt, mehr nackte Haut als heute geht nicht. Die erste Runde Getränke kommt, es ertönt ein Gegröle, welches einer Mischung aus Erleichterung aufrund von gefühlter Dehydrierung und Vorfreude auf die Party gleichkommt. „Wer hat jetzt was bestellt?“, lacht Jan. Bier, Wodka Energy, Whiskey Cola, alles wird verteilt. Laura, Jenny und ich haben die eine Seite des Tisches in Beschlag genommen. Die Sitzbank wird auch dieses Mal nicht großartig von uns genutzt, denn auch dieses Mal fangen wir einfach direkt an, uns rhythmisch zur Musik zu bewegen.

Ein Blick auf die Uhr, ein Blick von Laura, „Sollen wir?“, fragt sie zielstrebig. „Klar“, sage ich, und wir verschwinden Richtung Toilette. 

Die Zeit zwischen Einwerfen und Wirkung ist manchmal seltsam. Ich ertappe mich immer wieder dabei, wie ich auf die Uhr schaue und runter rechne, wie lange es wohl noch dauert, bis es anfängt. Richtwert ist eine Stunde, je nachdem, wie gut man vorher gegessen hat und wie lange dies her ist.

Dieser Moment, wenn es kommt, ist jedes Mal ein Eintauchen in eine andere Welt, ein Aufwachen in einer anderen Welt, eine Welt, die geprägt ist vom ultimativen Empfinden aller schönen Gefühle auf einmal. Ich spüre wie mein Puls immer höher wird. Ich schließe sie Augen. Ein unglaublich starkes, warmes und wohliges Gefühl durchzieht meinen ganzen Körper. Ich fühle mich federleicht, bewege mich im Takt der Bässe, hebe die Hände, strecke mich. Meine Wangen glühen. Die Musik schallt in meinen Kopf, es gibt nur noch sie und mich.

Ich atme die warme, nach Schweiß, Sonne und Alkohol riechende Luft um mich herum tief ein, ich könnte sie fast schmecken. Pulsierend bewege ich meine Hände zur Musik, ich verschmelze förmlich mit ihr. Ich lege meine Brille ab.

Obwohl ich ohne Brille meine Freunde nur noch unscharf erkennen kann, lege ich sie auf den Tisch, und genieße es, die Sehkraft eines Maulwurfes zu haben. Ich nehme einen ordentlichen Schluck Cola, ich brauche heute mehr denn je eine gute Portion Zucker, üblicherweise gibt’s bei mir nur Cola Zero. Ich spüre, wie tausend süß prickelnde Kohlensäurebläschen meinen Mund erfüllen. Erfrischender kann eine Cola kaum schmecken, als genau jetzt. Ich höre auf zu schwitzen. Auf meinen Handflächen spüre ich Luftzüge, die in Wirklichkeit gar nicht da sind. Die Musik dröhnt unaufhörlich, mittlerweile merkbar härter, schneller. Die Sonne ist untergegangen und hinterlässt ein Lichtermeer aus Girlanden, bunten Schirmchen und allerlei Dekoration in den Bäumen. Ich ziehe meine Schuhe aus. Ich will den warmen Steinboden unter meinen Füßen spüren. Jenny holt mich für einen kurzen Moment aus meiner Welt. Sie möchte auch was. Wir verschwinden tänzelnd zu den Toiletten. Bei dem Versuch, wie wir uns zu zweit in die Kabine quetschen, stoße ich mich mit meinem Oberschenkel hart am Toilettenpapierrollenhalter. Der ist zu meiner Verwunderung aus Gusseisern. 

Wieder an unserem Tisch angelangt sehe ich bereits, wie sich ein nahezu faustgroßes Hämatom in angenehmen Blau- und Violetttönen bildet. Ich lache und zeige Laura, Christian und Jan voller Begeisterung meine neue Errungenschaft. Ich umarme Laura und Jenny lange und fest. Ich spüre ihre warmen, weichen Körper an meinem. Ich inhaliere Jennys Duft förmlich ein... Ihre samtweiche Haut riecht immer nach Sommer. Christian ist durch mich permanent damit beschäftigt, die einzelnen Tracks, die aus den Lautsprechern tönen, mit seiner App auf dem Handy zu identifizieren. Scheinbar gefällt mir jetzt so ziemlich alles, was der DJ auflegt. Lauras und meine Hände treffen sich, gleiten fest in einander, wir bewegen uns synchron zum Beat, riechen die herrliche Luft, spüren den Bass in unserer Brust. Das unbändige Glücksgefühl, als könnte die Welt nur noch rosa sein und aus süßer Zuckerwatte bestehen, durchdringt meine Brust. Ich verschmelze förmlich mit der Musik, ein Gänsehautschauer jagt den nächsten. Ich fühle nur noch.

Ich bin eins mit allem. Endlos.

Ich bin frei.

5 Kommentare:

  1. Wow. Das ist für mich eine neue Welt. Du ermöglichst mir gerade ein Eintauchen! Vielen Dank!

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  2. Schön geschrieben. Ich fühle mit Dir, aber ich habe für mich die Erfahrung gemacht, dass es keine Freiheit ist.

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  3. Der Text soll die absolut subjektive Wahrnehmung des Moments beschreiben, keinesfalls geht es darum, zu diskutieren, ob das, was beschrieben wird, tatsächlich Freiheit ist.

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  4. Mir gefällt der Text sehr. Er behandelt das Thema aus einem völlig anderen Blickwinkel. Sehr schön!

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  5. Das ist mal eine individuelle und andere Sichtweise auf ein all zu oft tabuisiertes Thema. Ich finde du nimmst den Leser sehr gut mit auf diesen "Trip". Und während ich gerade bei 1°C am Stuttgarter Hbf stehe, sehne ich solche 38 Grad auch schrecklich herbei. 😅 Hat mir gut gefallen, auch weil es eben mal anders war, nicht belehren möchte. Weiter so. 🤗

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