Freitag, 25. Dezember 2020

Schreibchallenge #4.2020 (Kaan): Freiheit

 

„Sechs Klicks in die Freiheit“ von Kaan Saglam

Dienstagabend, eine kleine Einzimmerwohnung im achten Stock. Die Tapeten sind vom Zigarettenrauch gelb eingefärbt. In der Küche steht ein kleiner runder Tisch. Auf dem Tisch eine Flasche Korn, zwei Flaschen Bier, eine davon leer, die andere angebrochen, ein Aschenbecher voller Zigarettenstummel die aus ihm herausquellen. An dem Tisch ein Stuhl. Auf ihm sitzt ein Mann, Ende 40 mit lederner Haut, gelbliche Finger, tiefe Augenringe im Gesicht und blutunterlaufenen Augen. Josef greift sich etwas vom Tisch und führt es sich an den Mund. *Klick* Er legt das Ding zurück, nimmt ein Feuerzeug. *klick* Eine Flamme, ein Zug. Der Rauch flutet seine Lunge, ein genüssliches Ausatmen.

Josef sitzt wie jeden Abend in der Küche und betrinkt sich. Es ist still, keine Musik, kein Radio, kein Fernseher ist zu hören. Lediglich das Summen einer Glühbirne, die die nebelige Wohnung beleuchtet.

„Noch ein Zug“, denkt sich Josef, legt die Zigarette bei Seite und nippt an seinem Bier. Eine Flasche, ha, Flasche, das sagte seine Frau oft zu ihm. Er hat sich eingeredet dass sie den Alkohol meinte und nicht ihn. Inzwischen sind sie getrennt. Sie lebt mit der gemeinsamen Tochter bei ihrer Mutter, die Beziehung endete vor knapp zwei Jahren.

Er drückt die Zigarette im Aschenbecher aus. Es riecht nach verbranntem Plastik, die Filter kokeln. *klick*

Josef war heute in der Schule seiner Tochter, wollte sie überraschen und mit ihr spazieren gehen. Sie hatten sich schon viele Monate nicht mehr gesehen. Geweint hatte sie, aber nicht vor Freude. Sie weinte und schrie ihn an, was er sich einbilden würde vor der Schule aufzutauchen und sie so zu demütigen. Jetzt würde sie sich für immer vor ihren Freunden schämen müssen hatte sie gesagt. *klick*

Josef blickt auf die Uhr, es ist drei Uhr morgens. Er muss in wenigen Stunden zur Arbeit. Da war er mal jemand, da war er mal einer von den Guten. Heute lästern sie über ihn, das weiß er. Sie haben sich eine Zeitlang Mühe gegeben es vor ihm zu verheimlichen, aber mit der Zeit wurde es immer offener und direkter. Inzwischen lästern sie nicht nur über ihn, sondern involvieren ihn spöttisch in die Unterhaltungen, wenn es um Versager geht. *klick*Die nächste Zigarette brennt.

Ihm laufen Tränen über seine Wangen. Er weiß nicht warum er weint, denn er spürt keine Trauer. Josef spürt schon lange nichts mehr: Keine Scham, keine Trauer, keine Freude. Er vergleicht sich oft mit Siri, emotionslos, funktional. „Ungeliebt, aber gebraucht“ denkt er sich und pustet Rauch in die Wohnung. „Niemals werde ich wie mein Vater“ hatte er oft geschworen, als er noch eine Frau, eine Tochter, Freunde und Kollegen hatte, als er respektiert und geschätzt wurde. Als noch Menschen kamen um Zeit mit ihm zu verbringen, weil sie seine Gegenwart schätzen. Heute kommt niemand mehr. Anrufe bleiben unbeantwortet, Nachrichten werden nicht zugestellt und bei zufälligen persönlichen Begegnungen vermeiden sie möglichst den Kontakt mit ihm. Einige sind peinlich berührt, andere angeekelt. Er weiß, dass sein einstiger bester Freund nichtmehr im Aldi um die Ecke einkaufen geht, einfach weil auch Josef dort einkauft. *klick*

Josef horcht kurz auf. Dieses Mal war es etwas anderes. Etwas ist anders, er hat es genau gehört. Er nimmt einen weiteren Zug seiner Zigarette und lehnt sie an den Aschenbecher. Er greift die Flasche Korn und nimmt einen großen Zug. Josef muss sein Gesicht verziehen, der Alkohol brennt im Hals. „Dabei mag ich nicht einmal Korn“ sagt er, grinst währenddessen und lehnt sich zurück in den Stuhl, atmet tief ein und langsam wieder aus. Die Zigarette ist ausgegangen. Er nimmt die Fernbedienung seiner Stereoanlage*klick* Die Flasche Korn fällt auf den Boden, doch man kann es nicht hören, denn laute Musik hallt durch die Wohnung.

Es klopft jemand an der Tür. Henrik klopft noch einmal an. Er ist Polizist, neben ihm steht seine Kollegin Kerstin und der Hausmeister. Anwohner hatten ihn angerufen und gesagt, dass ein schwieriger Nachbar ungewöhnlich laut sei. Er wäre Alkoholiker, sagte man ihm. Niemand öffnet. „Bitte schließen Sie die Tür auf“, sagt Henrik zum Hausmeister. Als sie die Wohnung betreten finden sie einen Mann, Ende 40, der auf einem Stuhl in der Küche sitzt. Auf dem Boden liegt ein alter Revolver. „Verdammt Kerstin, es ist wieder einer dieser Tage.“, sagt Henrik und schaut mit ernster Miene zu seiner Kollegin. „Geh runter zum Wagen und ruf bitte in der Zentrale an und berichte was hier los ist.“ Kerstin geht durch die Haustier und stolpert dabei über die Türmatte. Auf ihr steht: Willkommen, hier beginnt Freiheit

3 Kommentare:

  1. Deine Geschichte gefällt mir extrem gut. Es hat sich definitiv gelohnt bis zum Ende zu lesen.

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  2. Wow. Kaan, das ist sehr sehr gut geschrieben. Ein toller, wenn auch trauriger Blickwinkel. Ich bin begeistert.

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  3. Krasse Geschichte, die einen packt, berührt, irgendwo auch deprimiert aber auf jeden Fall nicht kalt lässt. Super geschrieben! Gerne mehr davon in Zukunft, fand es wirklich super.

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