Sonntag, 2. September 2018

Der Versprecher


...und so standen sie beide nun da. Etwas verwirrt, wie sie hierher gekommen waren, schauten sie sich ratlos und fragend an, blickten sich ein ums andere Mal in dem kleinen Raum um, in dessen Mitte ein kleines Pult montiert war. Sonst war in dem Raum nicht viel zu sehen. Außer einer leuchtenden Leuchtstoffröhre, die an der Decke angebracht war, dem kleinen Pult und ihrer beiden Personen, war da nichts. Es gab nicht mal eine Türe, geschweige denn, einen Lichtschalter.

Man stelle sich einen Klotz aus Beton vor, der innen hohl ist. Grau und kalt war es in diesem Betonraum. Der Raum war maximal drei mal drei mal drei Meter groß. Bei genauerem Hinsehen verschwamm die Flucht der einheitlichen Wände aber ein ums andere Mal, so dass der Raum sich leicht danach anfühlte, als würde er sich in sich selbst etwas bewegen. Ihr wurde etwas schwindelig und sie setzte sich auf den nackten Boden. Er, den Raum nach irgendetwas Greifbarem absuchend, tigerte nervös an den Wänden lang. Wer war sie, fragte er sich. Wer war er, fragte sie sich. Sie kannten sich nicht.

Kaum hatten sie diese Gedanken zu Ende gedacht, pulverisierte sich in der Mitte des Raumes, hinter dem Pult, eine Person in umgekehrter Reihenfolge. Nicht die Person war in umgekehrter Reihenfolge, sondern die Art und Weise, wie sie dort auftauchte. Man stelle sich nun eine pulverisierende Explosion vor, die rückwärts abläuft und in deren eigentlichem Anfang sich eine Person materialisierte. Die nicht vorhandene Luft wurde kurzzeitig von einem einzigartigen shooows erfüllt. Dann war es wieder stumpf und still. Die beiden bemerkten nicht einmal, dass sie ihre eigenen Atemgeräusche gar nicht hörten. Würden sie auf ihre Handgelenke schauen und einen Puls suchen, so würden sie diesen zwar sehen, aber nichts weiter spüren. 

Sie, während das Pulver sich verzog, immer noch auf dem Boden sitzend, sprang nun auf, wich einen Meter zurück und kalter Beton berührte ihre Hände. Er stand dort neben ihr, mit dem Rücken zur gleichen Wand. Beide schauten nun - zu Recht etwas entgeistert - in die Raummitte. Dort stand diese ominöse Gestalt an dem kleinen Pult. Grau, groß, ziemlich schlank. Ein adretter Anzug hing ihm locker auf den Schulter. Folgte man dem langen Revers hinauf zu seinem Gesicht, sah man ein Gesicht, das von Ausdruckslosigkeit geprägt war. Von dem langen stumpfen Kinn, über die schmale, leicht krumme Nase, bis hoch zur Stirn gab es keine Anzeichen für Mimik oder Ausdruck. Die Gesichtsfarbe war ebenfalls an das Grau des Betons angepasst und war aufgrund von nicht vorhandenen Poren, Falten oder Anzeichen von Bewegungen, glatt und emotionslos. Was die beiden aber wirklich erschaudern ließ, war die Tatsache, dass diese große, graue Person weder Augen noch Ohren hatte. An der Stelle, wo sich die Augen nebst Augenhöhlen normalerweise befinden, war einfach nur eine kahle, blanke Stelle. Keine Vertiefungen, wie bei einem Totenschädel. Eher so, wie bei einer Modellpuppe aus Holz: plan und eben, angepasst an die Symmetrie des Schädels. Die fehlenden Ohren gaben diesem Bild einen abrundenden Schwung und sorgten für regungslose Entgeisterung bei den vermeintlichen Gefangenen in dem Betonraum.

Die Gestalt am Pult lächelte ganz kurz, öffnete dann ihren ziemlich menschlichen Mund und sprach. Der Redner sprach die beiden an der Wand Stehenden direkt an. Er sprach so, als wäre es das Selbstverständlichste nun das Wort an sie zu richten. Seine Stimme war vertraut und angenehm. Sie fand, dass sich seine Stimme anhörte, wie die männliche Variante der Stimme einer ihrer besten Freundinnen. Er vernahm in seiner Stimme eine ähnliche Vertrautheit, auch wenn er nicht ganz zuordnen konnte, wen er mit dieser Stimme verbinden sollte. Stimme hin, Stimme her. In dem Betonraum gab es anscheinend überhaupt keinen Raumklang. Jedes Wort verebbte unmittelbar nach dem sein letzter Buchstabe gesprochen wurde. Kein Nachhall, kein emotionales Dehnen von Endungen. Es war sehr...wie soll man sagen? ...man hatte ein permanentes Gefühl der Komprimierung. Als er sprach, wurde jedes Mal ein kleines bisschen von einem Vakuum verdrängt, um den Worten ganz kurz Platz zu machen, um dann wieder mit einem lautlosen pflp die Dichte der Umgebung zu komprimieren.

"Hallo." sagte er. "Ich bin der Versprecher. Sei gegrüßt." Als er sprach, sprach er die beiden verwirrten Menschen gleichermaßen an. Sein Kopf war weiterhin in einer aufrechten Haltung, es war keine weitere Regung auszumachen, als die sich bewegenden Lippen. Mit Augen, wäre sein Blick wahrscheinlich starr und stierend gewesen. Seine Nasenspitze schien genau auf die Mitte zwischen den Beiden an der Wand zu zeigen. Sie mussten, wie gebannt, seinen Lippen folgen und den Worten lauschen. Es sah so aus, als würde er sprechen, allerdings tat er dies direkt in ihren Köpfen. Jeder der beiden vernahm unterschiedliche Worte, die der Versprecher aber gleichzeitig an sie zu richten schien. "Ich bin hier um Dir mein Wort zu geben." fuhr der Versprecher fort. "Höre auf meine Worte. Verlasse Dich darauf, dass es das wert ist."

Die Beiden lauschten weiter, etwas anderes blieb ihnen auch gar nicht übrig, und hörten dabei, wie
der Versprecher in ihren Köpfen kommunizierte.
Sie hörte: "Ich gebe Dir mein Wort, dass egal, was passiert, immer jemand hinter dir stehen wird, dich auffängt und im Notfall auch den Spaten bereit hält."  
Er vernahm: "Ich gebe Dir mein Wort, dass ich stets aufrichtig mit dir umgehen werde."

"Ich gebe Dir dieses Versprechen. Denn ich bin der Versprecher. Ich sage Dir Dinge, die du glauben sollst und kannst. Ich gebe Dir mein Wort. Achte darauf und behalte es in Erinnerung. Vertraue mir." So sprach der Versprecher zu den Beiden und wiederholte noch einmal, nun mit einer etwas verzerrteren Stimme: "Ich gebe Dir mein Wort, dass egal, was passiert, immer jemand hinter dir stehen wird, dich auffängt und im Notfall auch den Braten bereit hält." Zeitgleich und parallel:
"Ich gebe Dir mein Wort, dass ich stets unaufrichtig mit dir umgehen werde."

So war er...der Versprecher: eindringlich, im Kopf, vertraut und irgendwie versprechend. Nachdem er die Worte wiederholt hatte, verschwand er noch plötzlicher, als er aufgetaucht war. Dieses Mal blieb die umgekehrte Pulverisierung aus. Es gab auch keine wirkliche Dematerialisierung. Er war einfach weg. Ein Blinzeln reichte aus und er war verschwunden. Der Betonraum war wieder so stumm und komprimiert, wie zuvor. Beide schauten sich noch einmal kurz an und wachten verwirrt auf.

Sie öffnete schlagartig die Augen und starrte an die Decke ihres Schlafzimmers. Kalter Schweiß rann von der Innenseite Ihrer Schädeldecke und tropfte penetrant auf ihre Erinnerung. "Was ein behinderter Traum..." murmelte sie vor sich hin, als die Bilder und Worte des Versprechers in ihrem Verstand aufblitzten. "Ernsthaft? Es wird jemand hinter mir stehen, der einen Braten bereit hält!? Und wer war der Typ, der auch da gewesen ist? Warum träume ich von fremden Menschen?" Sie schüttelte innerlich heftig mit dem Kopf, bei dem Versuch diesen Traum einzuordnen. "Der Versprecher, der Versprecher...was eine Gestalt..." dachte sie voller Argwohn, stand auf, ging zum Kühlschrank und entnahm diesem ein Kaltgetränk. Während sie einen kräftigen Schluck aus der Flasche saugte, grübelte sie weiter: "...gebe Dir mein Wort...auffängt...Spaten...Sagte er wirklich Spaten? Oder hat er sich nur Versprochen, als er Braten sagte?" Sie erinnerte sich daran, dass der Versprecher zweimal zu ihr gesprochen hatte...wusste aber beim besten Willen nicht mehr, welche Variante ihr nun versprochen wurde..."...hmmm, Braten...." Bei diesem Gedanken, schien sich der Geruch eines lecker duftenden Stückes Fleisch, welches im Ofen lustig vor sich hingart, zu verbreiten...

Er öffnete schlagartig die Augen und starrte an die Decke seine Schlafzimmers. Warmer Schweiß rann von der Außenseite seiner Schläfe und bahnte sich seinen Weg entlang der Ohrmuschel, um dann von seinem Ohrläppchen zu tropfen. "Was war das denn jetzt für ein Traum?" dachte er sichtlich verwirrt. Die Stirn in Runzeln und mit einem leichten Kopfschütteln, setzte er sich im Bett auf, fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht und atmete einmal kräftig durch. "Ein Versprechen? Aufrichtigkeit...das ist ja eh voll mein Thema gerade...", resignierte er ein wenig und dachte weiter über diesen leicht skurrilen Traum nach: "Man, man, warum erinnere ich mich so gut an diesen Traum? Normalerweise bin ich doch gar nicht so...und überhaupt: fremde Menschen? Wer war sie? Und warum sah dieser Versprecher so aus, wie er aussah? Sagte er wirklich "..., dass ich stets unaufrichtig mit dir umgehen werde."? Oder war das nur ein Versprecher? Passen würde es ja irgendwie..." Er machte zuerst die kleine Lampe auf dem Beistelltisch an und sich dann selbst eine Zigarette. Blauer Dunst erfüllte den kleinen Lichtkegel und es schien für einen kurzen Moment nach Braten zu riechen...

Zeitgleich, aber an verschiedenen Orten kam den beiden spontan wieder das Bild des Antlitzes des Versprechers in den Sinn. Er sah schon gruselig aus. Ganz ohne Augen und Ohren...fahl, grau, karg, hager. Sie erschauderten für einen Bruchteil des Momentes und Gänsehaut fuhr, wie eine winzigkleine Laola-Welle, über ihre Körper hinweg. Seine Stimme war im Gegensatz zu seinem Äußeren allerdings sehr vertraut gewesen, erinnerten sie sich. ...und der Effekt mit dem rückwärts passierenden Pulverisieren war schon echt ein Hingucker. Die Gelähmtheit, die sie empfanden, als er zu ihnen sprach, war eher uncool. Und die Tatsache, dass man von fremden Menschen träumte war weiterhin dubios. Es war ein lebhaft unlebhafter Traum mit viel Erinnerungspotential. Für beide war es individuell aber simultan und dennoch ähnlich. Die Unsicherheit und Ungewissheit über die Deutung und Wahrnehmung dieses Traumes im Nachhinein, ließ beide noch ein wenig wach bleiben und darüber nachdenken, bevor sie wieder der gewohnten Schlafroutine beiwohnten.

Am nächsten Tag, Feierabend, traf sie sich dann mit ihrem besten Kumpel. Er traf sich wiederum mit seiner besten Freundin. Sie schilderten und erzählten ihren Herzmenschen von dem Traum aus der letzten Nacht. Beschrieben den Versprecher detailgenau und fragte wiederum nach der vermeintlichen Intention dieses Traumes. Den Rat, den sie dann jeweils von ihren Freunden bekamen, war sinngemäß sehr ähnlich. Ihre Freunde wussten nämlich um die jeweilige Situation in der sich die beiden gerade befanden.

Sie sah sich zur Zeit mit vielen Veränderungen und potentiellen Neuerungen konfrontiert. Sollte sie den alten Job hinwerfen und sich was Neues suchen? Sollte sie sich endlich von ihrem, sie nicht wirklich beachtenden Typen trennen? Und demnach auch umziehen müssen? Sollte sie einen komplett neuen Weg einschlagen? Der alte schien schon lange nicht mehr der richtige zu sein. Sie war allerdings etwas im Zweifel, ob diese Welt die geplanten Veränderungen hergeben würde. Der Versprecher hatte funktioniert.

Er war derjenige, der immer aufrichtig mit Anderen umging. Ein höchst sensibler Mensch, der ein Leben lang mit Unaufrichtigkeit, Vertrauensbrüchen und emotionaler Abhängigkeit konfrontiert war. Er befand sich gerade auf dem Weg in eine neue Geschichte. Bisher war es nur oberflächlicher Sex, aber es bahnte sich wohl etwas an. Wie solle er dies nun äußern? Genau so, wie immer? Aufrichtig und ehrlich, auf die Gefahr hin, damit alles kaputt zu machen? Oder solle er so tun als würde es ihm dieses Mal genügen, wie es wäre, und einfach mal unaufrichtig sein? Er war sich nicht sicher. Der Versprecher hatte funktioniert.

Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen. So will es das Wort, wenn es gesprochen wird. Ein mündlicher Vertrag auf Vertrauensbasis. Ein Versprechen, dass zu halten ist, wenn man es äußert. War der Versprecher nun dieser Jenige, dem man aufs Wort glauben konnte, oder war die Mehrdeutigkeit seines Namens der springende Punkt bei der ganzen Angelegenheit?

Er sagte zu ihr: "Glaube mir, egal, wie du dich entscheiden wirst in den nächsten Tagen, ich gebe Dir mein Wort, dass egal, was passiert, immer jemand hinter dir stehen wird, dich auffängt und im Notfall auch den Spaten bereit hält. Derjenige werde Ich sein, das weißt Du ja! Und, wenn das mit dem Begraben von deinem baldigen Ex nicht klappt, dann mache ich dir auch einen Braten, keine Frage!" Sie lächelte, nickte und dankte ihm, dass er da war.

Sie sagte zu ihm: "Weißt du, du bist einer der feinfühligsten Menschen, die ich bisher kennen lernen durfte und ich sage dir, sei weiter genau so wie du bist! Bleibe aufrichtig und echt. Derjenige, der deine Aufrichtigkeit nicht anerkennt, hat dich auch nicht verdient. Dann geht es eben weiter. Ich gebe Dir mein Wort, dass ich stets aufrichtig mit dir umgehen werde. Auch wenn das manchmal heißt, dir Dinge zu verbildlichen, die du vielleicht anders gewollt hast." Er lächelte, nickte und dankte ihr, dass sie da war.

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