Sonntag, 15. März 2020

Schreib-Challenge #1.2020 (David): Entwurzelung/Neuanfang - Umzug ins Unbekannte (Fluch oder Segen?)

Entwurzelt

In meiner Kindheit sind wir oft umgezogen. Mein Vater war Journalist, häufige Ortswechsel brachte der Beruf mit sich. Geboren wurde ich in Dortmund. Erinnern kann ich mich wahrlich nicht daran, denn kurz darauf zogen wir nach Grafing, bei München. Auch daran kann ich mich kaum erinnern, ich war ein Kleinkind. Lediglich aus Erzählungen meiner Mutter weiß ich, dass ich die Erzieherin des katholischen Kindergartens immer „Schwester Rosine“ nannte, obwohl sie doch Rosina hieß.
Wir zogen irgendwann wieder nach Dortmund. Aus dieser Zeit habe ich nur Erinnerungsblitze im Gedächtnis, nichts Konkretes. Ich weiß, dass die Kindergärtnerin ätzend war. Dass sie mir immer mein Spielzeug wegnahm. Ich weiß, dass sie eine dicke Frau mit grauen Haaren und Brille war. Zumindest sagt mir das meine Erinnerung.

Als ich sechs Jahre alt war, zogen wir nach Schwerte. Wir hatten ein Haus, mit Garten, in einer Spießbürgersiedlung voll von absurden Gestalten, die ihren Rasen mit dem Lineal messen mussten, nachdem sie ihn gemäht hatten. Ich hatte einen Dauerkrieg mit dem Nachbarsmädchen und einen einzigen Freund. In der Schule wurde ich gemobbt, ich bekam meine ersten allergischen Erfahrungen – alles in Allem keine gute Zeit.

Wir zogen wieder nach Dortmund. Ich muss 15 gewesen sein.
Und seitdem lebe ich in Dortmund.
Der Punkt ist: ich habe mich nie entwurzelt gefühlt. Denn – seien wir ehrlich – eine besondere Bindung zu den Orten, an denen ich zuvor gelebt hatte, habe ich sowieso nie aufgebaut. Dort lebten die falschen Menschen.
Das erste Mal, dass ich mich entwurzelt gefühlt habe, war eine ganz andere Geschichte.

Zuerst kam Hotte nicht wieder. Normalerweise trafen wir uns Abends, Hotte, Manuel, Pauline und ich. Andere waren auch zuweilen dabei, aber das war der Kern der Gruppe. Wir entschieden dann, was wir machen wollten. Mal war es Blödsinn, mal war es sinnvoll. Aber Spaß hat es immer gemacht.
Irgendwann kam auch Pauline immer seltener. Erst fehlte sie einmal, dann zweimal, dann war sie plötzlich weg. Wie ein nächtliches Gespenst, das nach dem Aufwachen noch neben deinem Bett zu stehen scheint, nach einem Blinzeln aber verschwindet.
Manuel kam als nächster nicht wieder. Man muss wissen, dass er mit Pauline zusammen war. Einige Zeit kam er noch öfter zu unseren Treffen, aber irgendwann war auch er weg. Nebel im Wind.

„Ganz schön unkonkret,“ werden einige von euch nun sicher denken.
Und sie haben recht.
Denn die Leute, die da nach und nach verschwanden, kannte ich kaum „in echt.“ Sie waren Mitglieder in einer Gilde.
In einer Gilde aus World of Warcraft.
Natürlich sind sie nicht wirklich verschwunden. Sie kamen einfach nicht mehr online. Zu jener Zeit gab es ein Konkurrenzspiel namens Aion. Lange hatten sie schon damit geliebäugelt, und am Ende werden sie wohl dahin gewechselt haben. Zumindest war das damals meine Vermutung.
Zuerst kamen sie immer seltener online, dann, irgendwann, überhaupt nicht mehr. Zurück blieb ich mit einer Gruppe von Spieler*innen, die ich kaum oder gar nicht kannte. Wie im echten Leben, so knüpft man auch online seine Sympathien ungerecht. Und wo im echten Leben das Gesicht, so hilft online die Stimme, das digitale Gegenüber nicht nur einzuordnen, sondern auch dabei, es zu mögen (oder auch nicht, aber das spielt für diesen Text keine Rolle).

Ich erinnere mich noch, wie sie mich für die Gilde rekrutierten. Ich kam als Außenseiter („Random“) auf ein Gruppenevent (Raid) mit, das deren Gilde durchgeführt hatte. Ziel war es, den Drachen Sartharion zu töten.
Ich war, wie bei solchen Raids üblich, aus ganz eigennützigen Zielen mitgegangen. Ein wenig an der Beute des Drachen teilhaben, etwas Erfahrung sammeln, solche Dinge eben. Mit Gilden hatte ich nichts mehr am Hut, denn meine Erfahrungen mit einer stalkenden, psychopathischen Gildenleiterin hatten mir vorerst die Lust auf Gesellschaft verdorben. Und so tingelte ich mehr oder weniger heimatlos, wie eine Art Söldner über den Server.
Bis zu diesem Tag, an dem wir Sartharion umboxten. Der Raid lief beileibe nicht so einfach. Die eine oder andere brenzlige Situation rettete ich dank der Fähigkeiten meines Spielcharakters. Der Paladin kann zum Glück von allem etwas und das nutzte ich auch aus.Draufhauen, Heilung, Charaktere vor Schaden bewahren – ich konnte das Spektrum in seiner Gänze anwenden.
Am Ende lag das Drachenvieh am Boden und es wurde Beute verteilt. Ob ich etwas bekommen habe, weiß ich nicht mehr. Was ich aber bekam war ein Gespräch mit Manuel und Pauline - die Namen sind hier geändert, denn die Spielcharaktere hießen Maruviel und Palani.
Kurz darauf war ich Mitglied in deren Gilde. Es war die einzige Online-Gemeinschaft, in der ich über lange Zeit aktives Mitglied sein sollte. Ich war zuvor nie lange in Online-Gruppen – viele nehmen sich selbst oder das Spiel zu ernst, andere sehen sich nur als Gemeinschaft für das Austauschen stumpfer, sexistischer, rassistischer oder wie auch immer gearteter billiger Witze. Ich sollte auch danach nie wieder eine Gruppe finden, der ich mich über einen längeren Zeitraum anvertrauen sollte.
Manche Leser werden bereits an der Stelle aufgegeben haben, an der ich einräumte dass es hier um ein Online-Erlebnis geht.

Manche werden weiter gelesen haben und den Kopf schütteln. Wie kann man nur so eine Wertbindung für ein Spiel entwickeln?
Aber ich habe diese Bindung gar nicht für das Spiel entwickelt.
Sondern für die Menschen, mit denen ich es gespielt habe.
Genau wie mit Personen aus dem „echten“ Leben, hatte ich auch mit diesen Menschen tolle, witzige, traurige, ärgerliche, schöne und tragische Momente. Und ich habe an diese Zeit in World of Warcraft bessere und konkretere Erinnerungen, als an weite Teile meiner Kindheit. Zum Beispiel folgende Anekdote: als wir eine anspruchsvolle Instanz machen wollten (ein Event für fünf Spieler, bei denen man verschiedene Gegner in einem Labyrinth aus Gängen findet und tötet), und vor einem großen Raum voller Feinde standen, die Halle so hoch, dass wir ihre Decke nicht sehen konnten, die Gegner so zahlreich, dass wir sie kaum zählen konnten, machte sich unser Krieger, Frontkämpfer und Anführer Maruviel bereit, die erste Gruppe von Gegnern aufs Korn zu nehmen. Wir warteten bereit, auf sein Zeichen loszustürmen – als plötzlich mein Kater Louis über meine Tastatur lief. Meine Spielfigur joggte vorwärts und hatte im Nu alle Gegner der Halle auf sich aufmerksam gemacht.
Unsere Charaktere waren in Sekunden tot.
Unser Lachen im Voicechat erstarb für Minuten nicht. Mein Fluch und mein wütender Ausruf „LOUIS!“ waren seither ewiges Gesprächsthema.

Ein anderes Mal wollten wir auf ein PVP (Player vs. Player)-Schlachtfeld. Wir alle waren mies darin, gegen andere Spieler anzutreten. Gegen den Computer? Ja, bitte! Aber gegen andere Spieler? Naja...
Wir wurden richtig böse verhauen. So muss sich die Hörde-F-Jugend fühlen, wenn sie gegen die Nationalmannschaft antritt.
Aber es war lustig. Wir machten sogar eine Challenge daraus, wer von uns am häufigsten sterben würde.

Und irgendwann waren sie alle weg, meine Mitspieler*innen. Geblieben waren nur ein paar Anekdoten.

Es geht um Entwurzelung. Ich könnte jetzt, nur für WoW-Kenner, eine Referenz einbauen, die sich auf die Wurzeln-Fähigkeit des Druiden bezieht. Aber das lasse ich an dieser Stelle.
Entwurzelt bist du nicht unbedingt, wenn du einen Ort verlässt. Die Metapher täuscht hier. Denn Menschen können ebenso gut wie Orte binden und im Internetzeitalter können sie überall sein. Entwurzelt bist du, wenn ein Ort dir keinen Grund mehr gibt, deine Wurzeln erneut in ihm zu schlagen.
Der Ort war World of Warcraft.
Aber die Erde, die dort meine Wurzeln hielt, waren die Menschen.

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