Montag, 27. April 2020

Ein Wind, ein Sturm, ein Massenpanikum

Ein Wind, ein Sturm, ein Massenpanikum

Ein Sturm zieht auf und er ist so schwer wie der bittere Geschmack von Blei im Mund. So tief wie die Wolken nun hängen, müssten sie längst die Oberfläche der Welt berühren. Und ja, das tun sie. Die wabernden, dichten Schwaden küssen die dunklen Hügel und Straßen. Bahnen sich ihren Weg das Tal hinab. Unaufhaltsam, stetig. Über ihnen und ringsherim wütet der Sturm, der sie immer mehr vorantreibt und dabei anpeitscht. Wie ein Gladiatior thront der Sturm auf den Wolken, wie auf einem alten Streitwagen...befeuert das kolossale Gespann, welches die Erde unter seinen Hufen zum Erbeben bringen lässt.

Alles, was sich dieser großen dunklen Wand in den Weg stellte oder gar schon immer an diesem Platze war - somit sich gar nicht in den Weg stellen konnte - wurde einfach überrollt. Verschluckt. In sich aufgenommen. Wenn man versuchte an dem Sturm und seinen Wolken vorbei zu sehen, musste man entsetzt feststellen, dass es dort kein Ende gab, welches man hätte sehen können. Somit wurden Felder, Häuser, Zäune und Straßen einfach in die Dunkelheit versetzt. Die tiefliegenden, sich unaufhörbar nach vorne schiebenden Wolken glitten über die Ebenen hinweg, wie das sprichwörtliche Messer durch die Butter und nahmen alles in sich auf, was vor ihnen lag. Leider gab es keine Berichte, wie es in der Dunkelheit des Sturmes ausgesehen haben mag. Niemand hatte eine solche Lawine aus Getöse und Blitzen, Donner und Dunkelheit jemals zuvor gesehen. Erschwert wurde dies zusätzlich durch die Tatsache, dass das Ende des Sturmes eh nicht zu sehen war.

Gut fünfundzwanzig Kilometer weiter weg, auf einem von Wind und Wetter geformten großen Felsen, mitten auf einem Hügel, der mitten auf einem Acker zugegen war, stand Xxx und sah aus sicherer Entfernung, wie ein ganzes Dorf, inklusive der Vorortschaften, einfach verschwand. Aus dieser Entfernung, mit diesem Abstand zu diesem Monster von Wetter, konnte Xxx auch das Ende des Sturmes sehen...und ja...es war enorm weit weg. Extrem. Eigentlich nicht zu glauben...wenn man es nicht selbst gesehen hatte. Kilometer über Kilometer zog sich der dicht-diesige Dunst auseinander. Im Ganzen betrachtet, sah es ein bisschen so aus wie ein enorm großer, schwarzer Stein einer dänischen Kunststoffklötzchenfabrik. Ziemlich rechteckig, dachte sich Xxx. Zudem war es das Verstörendste und zugleich Beeindruckendste, was er je gesehen hatte.
Passender Weise lief gerade Tribute von Tenacious D in seiner Playlist, was die Stimmung in diesem Moment noch sehr viel surrealer machte.

Xxx blickte sich um und sah sorgenvoll sein Heimatdorf in einem (noch) sicheren Abstand in etwas über fünfundzwanzig Kilometern Entfernung und fragte sich, was passieren würde. Xxx sprach sich selbst zwar des Öfteren sehr gute Augen zu, aber in Wirklichkeit war das Land um ihn herum einfach nur unglaublich flach und eben. Der Felsen, auf dem Hügel, auf der Ebene, auf dem er stand, war im Radius von ungefähr fünundzwanzig Kilometern die höchste Erhebung weit und breit. Man hatte also sehr leicht einen sehr guten Überblick und eine Aussicht...ein Träumchen...nur Holland war schöner.

Er nahm wieder dieses Ungetüm von Wolkenwand und Windespracht ins Auge und sah, scheinbar Unglaubliches. Kaum hatte der Sturm Das Dorf bis zu dessen Grenzen eingenommen und in sich begraben - Man stelle sich eine Kuppel aus tiefschwarzen Wolken vor, die nun förmlich auf dem gesamten Dorfgebiet zum Stillstand kam. Aus der langgezogenen Schar des Sturmes wurd eine Kuppel, bestehend aus Wetter (sehr schlechtem Wetter), die das komplette Dorf einmal überstülpte, um dann, Augenblicke später, zuerst mit einem ohrenbetäubend lauten Surren, das immer hochfrequenter und schneller wurde und dann mit einem Zischen, welches seines Gleichen suchte, in einer Art schwarzem Loch zu verschwinden.

Der Sturm war weg. Das Dorf leider auch. Wohl gemerkt...es blieben schon noch so ein paar Ruinen und Trümmer übrig, aber die waren kaum der Rede wert. Der Himmel zeigte sich auch wieder in einem neutralen, farblosen Blau und eigentlich war alles wie immer...nur deutlich leerer. Und sehr viel leiser, mutmaßte Xxx, der mit weitaugerissenen Augen dastand und nicht wirklich wusste, wie er das Passierte einzuordnen hatte.

"Ob diese Welt hier nun zu Ende geht..." murmelte Xxx vor sich hin, als er sich dann rasch umdrehte, den Felsen in zwei gekonnten Sätzen hinter sich ließ, um dann geschmeidig den Hügel hinunter zu sliden. Unten angekommen ging er unmittelbar - wie aus einem Guss - weiter. Die Hände in den Taschen des staubigen Mantels vergraben, den Kragen hoch aufgestellt, den Kopf gesenkt. Er hielt kurz inne und schaute sich noch einmal blinzelnd um, bevor er zu seinem Strand-Buggy ging, einstieg und erstmal tief durchatmete.

Was war jetzt der Plan? Xxx war noch nicht lange für das Wetter verantwortlich und so Etwas - beim besten Willen - hatte eh noch nie jemand vorher gesehen oder?! Was sollte man da machen?
Blitze, Donner, Gewitter im Allgemeinen, Hagel, Sturm und Regen...alles gut, das kannte man, da wusste man, was passiert. Aber ein kaum zu überblickender, offenbar sehr zielgerichteter Monster-Sturm, der zudem sein Form ändern konnte und - was wirklich erstaunlich war, für ein Wetter solcher Größe - einfach im Nichts verschwand...da sollte erstmal einer eine plausible Erklärung für haben. Fragen über Fragen ploppten, wie säurehaltige Blasen vor seinem inneren Auge auf und verpufften mit einem leisen Zischen, sobald die nächste Frage sich in seinem Kopf bereit machte.

Wo kommt es her? Was will es? Ist es überhaupt ein Es? Warum das Nachbardorf? Würde das Wetter auch bei Ihnen zu Hause wütend werden? Wenn ja, was konnte er tun? Xxx viel spontan nichts ein, was die Fragen auch nur ansatzweise beantwortet hätte.

Er beließ es erst einmal bei dem Chaos im Kopf, startete den Motor und mit rock you like a hurricane auf den Ohren machte er sich bleißüßig auf den Weg nach Hause. Im Rückspiegel war immer noch deutlich die Schneise der Verwüstung zu sehen, die der Monster-Sturm nach seinem verschlingenden Wüten zurückgelassen hatte. Ein Dorf...zack...einfach weg. Und er war dabei gewesen. Zu schade, dass das alles vor der Erfindung der allseits bereiten Handykamera passierte, dachte sich Xxx...aber nun gut...es hat sich eh in sein Hirn eingebrannt, wie heiße Eisen in Holz. Die Bilder wurde er so schnell nicht mehr los. Ackerboden wirbelte herum, als Xxx den Buggy trat und über die Ebenen heizte...

Ein Wind, ein Sturm, Ein Massenpanikum. Was wäre, wenn jemand diesen Sturm bewusst eingesetzt hatte? War dieses Monstrum eventuell ein Instrument? Ein reines Werkzeug des Chaos und der Verwüstung? Oder war es einfach eine noch nie dagewesene Abnormalität der Natur? War es die Essenz dieser Welt, die sich dazu entschied, aufzubegehren und sich das zurückzuholen, was ihr einst genommen?

Die Menschen nannten es Chaos, Verwüstung und Ungerechtigkeit. Alles, was sie sich so lange aufgebaut und erwirtschaftet hatten, wurde mit einem Mal zerstört und zu Nichte gemacht. Sähe die Natur es genau so? Oder wäre es die ausgleichende Gerechtigkeit, die mit der Zeit kommt? Die natürliche Selektion des Lebens? Der Ausgleich eines Universums? Gab es vielleicht nur indirekt etwas, dass dieses Massenpanikum begründete oder erklären konnte?

Xxx war sich sicher, dass dies nicht der einzige Sturm seiner Art gewesen sein sollte. Irgendetwas in seiner Magengegend klopfte vehement an seinen Geist und bescherte ihm das ungute Gefühl, dass es bald noch viel mehr solcher Erscheinungen geben würde. Die Frage, warum dieses Spektakel passierte war mittlerweile zu Nebensache geworden. Xxx machte sich nun mehr Gedanken und Sorgen darüber, wie er seinen Mitmenschen in seinem Heimatdorf erklären sollte, dass sie höchstwahrscheinlich bald nichts mehr von ihrem Dorf haben würden. Er legte sich die Worte immer wieder zu Recht, die er an die Dorfgemeinschaft wenden wollte. Und er hoffte inständig, dass sie ihm glauben würden. Ihn beschlich aber zeitgleich auch das Gefühl, dass er wieder mal als Spinner und Fantast bezeichnet werden würde. Wie solle es auch einen Sturm geben, ein Monster, etwas Nie-Dagewesenes, was im Stande wäre ein Dorf zu verschlucken? Wohlmöglich sagte die Menschen über das zerstörte Nachbardorf: "Die haben doch bestimmt wieder mit Feuer gespielt und haben ihr eigenen Dorf versehentlich in Brand gesteckt.", oder "Ach, Die schon wieder, hinterwäldlerische Bauern." Selbst wenn sie die Verwüstung mit eigenen Augen sehen würde, so war sich Xxx sicher, würden immer noch Einige sagen, dass die Anderen es selbst waren oder selber, aus irgendeinem fadenscheinigen Grund, dafür verwantwortlich waren.

Xxx fühlte sich in seiner Position oft machtlos und ungeschätzt. Lag es daran, dass er ein ganz anderes Verständnis für die Dinge hatte? Lag es daran, dass er nicht in einer konservativ-zusammengeschweißten Denkweise verharrte, wie der Großteil der Gemeinschaft?! Tief im Inneren wusste er schon lange, dass er anders war. Und ganz offensichtlich entgegnete ihm die Gesellschaft, in der er sich aufhielt, genauso. Er war ein Einzelgänger. Er hatte die Position seines Vaters ohne Frage und Zweifel einfach übernommen, als dieser starb. Seine Mutter war schon längst von dieser Erde gegangen und seine Schwester...naja...sie war so etwas wie das Fähnchen im Wind. Sie schlug sich schon früh auf die einfache Seite des Systemes. Sie wusste dabei ganz genau, wie sie die Mechanismen und Modelle, die in dieser Gesellschaft vorgegeben wurde, zu ihren Gunsten nutzen konnte und tat dies! Hätten sie in einer Monarchie gelebt, wäre sie wohl die unangefochtene Königin gewesen. Eine Königin, die voller Egoismus, Verschwendung und Eitelkeit war. Was genau bei Ihr in die andere Richtung lief, war für Xxx zwar erklärbar, aber nicht nachvollziehbar. Wie konnten die gleichen Gene so sehr in verschiedene Richtungen ausufern? Der Tod ihrer Eltern, besonders der ihrer Mutter, war daran maßgeblich beteiligt.


So stand Xxx nun vor dem geparkten Buggy, den er neben seiner Hütte abgestellt hatte, blickte erneut zurück über die Ebenen und wusste immer noch nicht so richtig, was seine Bemühungen und die Berichterstattung auslösen würde. Er ging hinüber zu der kleinen Veranda, seines nicht weniger kleinen Domizils, trat sich die staubigen Stiefel an der Stufe ab, setze sich auf die einfache Holzbank, vergrub sein Gesicht in seinen Händen und atmete erstmal kräftig durch.

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